Swissrail Industry Association / Thu 30.03.2023

Peter Füglistaler über das Bahnland Schweiz

Das Zusammenspiel von Politik, Behörden, Betreibern und Industrie scheint der Komplexität eines integrierten öV-Systems der Schweiz gerecht zu werden. Warum funktioniert das in der Schweiz so gut?

Interview mit Peter Füglistaler

Die Schweizer:innen sind bekannt als Europameister im Bahnfahren. Das ist auf keinen Fall eine Selbstverständlichkeit. Was ist das Erfolgsrezept des Bahnlandes Schweiz? (Anlässlich des Soirée Suisse in Berlin hatten Sie mal gesagt „1. Geld, 2. Geld, 3. Geld“ – ein Zitat, auf das wir von ausländischen Partnern seither immer wieder – durchaus etwas neidisch - angesprochen werden. Nebst Geld, welche Zutaten hat unser Erfolgsrezept noch?)
 
Die Schweiz ist tatsächlich ein Land der Eisenbahn. Nirgendwo sonst in Europa fahren die Menschen mehr und längere Strecken mit der Bahn. Weil die Eisenbahn in unserem Land traditionellerweise grosses Ansehen und starke Unterstützung geniesst, sind Politik und Steuerzahlende bereit, viel Geld dafür zur Verfügung zu stellen. Zum Erfolg des Bahnlands Schweiz tragen weiter das attraktive Angebot mit dem Taktfahrplan und die guten Anschlüsse beim Umsteigen bei. Dazu kommen Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, motiviertes Personal und das Prinzip «ein Ticket für eine Reise». Und natürlich ist eine starke und innovative Industrie mit Schweizer Wurzeln ein wichtiger Aspekt.
 
Im Ausland stösst unsere Art, den öffentlichen Verkehr zu organisieren, auf reges Interesse. Das Zusammenspiel von Politik, Behörden, Betreibern und Industrie scheint der Komplexität eines integrierten öV-Systems der Schweiz gerecht zu werden. Warum funktioniert das in der Schweiz so gut? 
 
Es herrscht bei uns breite Einigkeit darüber, dass der öffentliche Verkehr ein Garant für den Zusammenhalt unseres Landes ist. Er verbindet die verschiedenen Landesteile und Sprachregionen und die Alpentäler mit den Zentren. Die Orientierung am Gemeinwohl, der Service Public, steht im Vordergrund. Dies alles ist möglich dank einer starken und aktiven Rolle des Staates und einer Orientierung aller Akteure an übergeordneten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zielen anstelle der Gewinnmaximierung.
 
Die Schweiz ist betreffend Bahnverkehr sehr stark auf eine sehr enge Zusammenarbeit mit den Nachbarländern angewiesen. Nun stocken die Verhandlungen über den bilateralen Weg. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein? Wo sind die grossen Herausforderungen? 
 
Tatsächlich wirkt sich das fehlende institutionelle Rahmenabkommen bzw. die fehlende politische Bereitschaft der Schweiz, die EU-Regeln zum Beispiel beim grenzüberschreitenden Bahnverkehr zu übernehmen, zunehmend negativ auf die schweizerischen Anliegen aus. Die EU-Kommission droht damit, die Übergangslösung zur Zusammenarbeit mit der Europäischen Eisenbahnagentur (ERA) nicht mehr zu verlängern. Das könnte dazu führen, dass Schweizer Bahnen und die Schweizer Industrie Zulassungen für Rollmaterial sowie Sicherheitsbescheinigungen für den internationalen Verkehr künftig sowohl in der Schweiz als auch in der EU beantragen müssen, was die Verfahren verlängert und aufwändiger macht. Auch ist die Zulassung von neuem Rollmaterial für den grenzüberschreitenden Regionalverkehr schwieriger geworden, wie etwa die Probleme der BLS bei der Zulassung ihres neuen Rollmaterials für die Strecke nach Domodossola zeigen. Wenn keine Normalisierung im Verhältnis mit der EU erreicht wird, droht das Vorzeige-Bahnland Schweiz in Europa aufs Abstellgleis zu fahren.
 
Die Schweiz will bis 2050 die Klimaziele auch mittels Erhöhung des Modalsplits von ca. 25% auf 40% erreichen. Was muss sich an den Rahmenbedingungen ändern, damit dieses Ziel erreicht werden kann?
 
Im Hinblick auf künftige Ausbauschritte hat der Bundesrat seine Langfriststrategie Bahn überarbeitet. Mit der neuen Perspektive «BAHN 2050» soll das Bahnangebot vermehrt auf kurzen und mittleren Distanzen verbessert werden, etwa mit zusätzlichen S-Bahn-Angeboten und einer Aufwertung der Vorstadt-Bahnhöfe. Dort besteht das grösste Potenzial, Verkehr von der Strasse auf die Schiene zu bringen. Für einen richtig grossen Schritt beim Modalsplit, und eine Steigerung auf 40 Prozent wäre ein riesiger Schritt, reicht Bahnausbau alleine nicht. Dafür braucht es viele ergänzende Massnahmen: von der Preispolitik über die Raumplanung bis hin zu den Angeboten. Ich bin überzeugt, dass im Tarif- und Sortimentsbereich, beim offenen Zugang zu den Vertriebssystemen oder über den Bahnzugang mit Bankkarten grosses Potenzial besteht, um neue öV-Benutzerinnen und Benutzer anzulocken. Es gibt bereits gute Ansätze, doch ich denke, hier hat die öV-Branche noch viel Luft nach oben. Die Industrie ist gefordert, dies mit innovativen Lösungen zu unterstützen.
 
Was wünscht sich das BAV in der Zukunft vermehrt von der Industrie? Und was kann Swissrail als Verband dazu beitragen?
 
Die Unternehmen der schweizerischen Bahnindustrie besitzen weit über unsere Grenzen hinaus einen hervorragenden Ruf. Das ist das Resultat von harter Arbeit und grossem Engagement. Mit der Digitalisierung befinden wir uns in einer Entwicklung, die gerade in der Mobilität und für den öffentlichen Verkehr grosse Chancen bietet. Jedes einzelne Unternehmen der Eisenbahnindustrie kann einen Beitrag leisten, dass wir diese Chancen zugunsten einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Mobilität nutzen. Der Verband kann die geeignete Plattform bieten und dazu beitragen, die Kräfte zu bündeln, den Industriestandort Schweiz zu stärken und die Schweizer Industrie weltweit zu vertreten.
 
Sie sind noch eineinhalb Jahre in Ihrer Funktion als Direktor des BAV tätig. Gibt es Ziele, die sie in dieser Zeit unbedingt noch erreichen möchten?
 
Mit der Perspektive „BAHN 2050“ wollen wir wie erwähnt die langfristige Strategie für den Schienenpersonenverkehr und seinen Beitrag zu den Klimazielen festlegen. Damit stellen wir die Weichen für den weiteren Ausbau der Bahn in den Agglomerationen. Eine zweite grosse Vorlage, die wir zurzeit in Arbeit haben, betrifft die Zukunft des Schienengüterverkehrs. Hier geht es um nichts weniger als die Zukunft des Wagenladungsverkehrs in der Schweiz: Wir müssen diese Sparte mit gezielter Unterstützung und Modernisierung zukunftsfähig machen, sonst wird sie verschwinden. Dazu gehört im speziellen die Einführung der Digitalen Automatischen Kupplung, die ich noch auf den Weg bringen möchte. Ein wichtiges Anliegen ist auch die weitere Vereinfachung unseres Tarifsystems, damit es für Kundinnen und Kunden ohne «GA-Komfort» einfacher wird, den öffentlichen Verkehr zu nutzen. Auch möchte ich dazu beitragen, bessere rechtliche Grundlagen für Verkehrs- und Tarifverbünde sowie für die Branchenorganisation Alliance SwissPass zu schaffen. Und zuletzt, aber dies umso mehr: Die Bahn hat beim Zusammenwachsen von Ländern schon immer eine Vorreiterrolle übernommen. Die Schweiz soll Teil des einheitlichen europäischen Eisenbahnraums der EU (Single European Railway Area) bleiben und damit der Schweiz den Weg in die Zukunft weisen.
 
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