Swissrail Industry Association / Mon 02.10.2023

Interview mit Nationalratspräsident Martin Candinas

In der aktuellen Ausgabe des Swissrail-Express hatten wir die wertvolle Gelegenheit, ein Interview mit Martin Candinas zu führen, dem Präsidenten der LITRA - Informationsdienst für den öffentlichen Verkehr, der in diesem Jahr auch das Amt des Nationalratspräsidenten innehat.

«Es fällt mir manchmal schwer, wenn ich öffentlich nichts zu einem für mich wichtigen Geschäft sagen darf.»

Als Nationalratspräsident hast du zahlreiche zusätzliche, vor allem auch repräsentative Aufgaben übernehmen dürfen. Inwiefern kannst du dich während deinem Amtsjahr überhaupt noch politisch einbringen?

Die primäre Aufgabe des Nationalratspräsidenten ist den Rat zu leiten. Wir haben vier Sessionen à drei Wochen pro Jahr. Auch leitet der Nationalratspräsident die Vereinigte Bundesversammlung. Dazu kommen dir repräsentativen Aufgaben im In- und Ausland. Viele spannende Persönlichkeiten durfte ich empfangen und besuchen. Das Amt ist sehr intensiv. Es macht mir aber sehr viel Freude, unser einmaliges politisches System erklären und zeigen zu können. Der Nationalratspräsident äussert sich nicht öffentlich zu politischen Geschäften. So stimme ich als Nationalratspräsident im Rat auch nicht ab. Erst wenn es eine Patt-Situation gibt, äussert sich der Präsident mit Stichentscheid zum Geschäft. Dies ist mir in meinem Jahr erst drei Mal passiert. Es fällt mir manchmal schwer, wenn ich öffentlich nichts zu einem für mich wichtigen Geschäft sagen darf. Aber dafür kann sonst viele neue Erfahrungen sammeln, die das bei weitem wettmachen. Kurz gesagt: In meinem Amtsjahr halte ich mich politisch stark zurück.


Was sind im laufenden Jahr die bedeutendsten verkehrspolitischen Geschäfte?

Es laufen momentan recht viele wichtige Geschäfte in der Verkehrspolitik, allen voran auch für den öffentlichen Verkehr. Besonders beschäftigt bei der LITRA haben uns in diesem Jahr die Weiterentwicklung des Güterverkehrs, der Ausbau der Bahninfrastruktur, die Finanzierung der öV-Angebote oder die Umstellung im Strassen-öV auf umweltfreundliche Antriebe. Besonders gefreut hat mich natürlich, dass sich der öffentliche Verkehr nach der Corona-Pandemie schneller al gedacht vom Einbruch erholt hat. Im zweiten Quartal dieses Jahres haben wir einen neuen Nutzerrekord im Schienenpersonenverkehr verzeichnen können. Das zeigt doch: die Leute wollen mehr Mobilität, und zwar vor allem mehr nachhaltige Mobilität! Deshalb setze ich mich auch mit viel Energie und voller Überzeugung für eine weitere Stärkung unseres öV-Systems in der Schweizer Politik ein.


Der öV trägt massgeblich zur Reduktion der CO2-Emissionen im Verkehrssektor bei. Deshalb will die Politik auch noch mehr Menschen und Güter in den öV bringen. Dafür wird es auch weitere Innovationen brauchen. Wie schaffen wir es, Wissenschaft und Industrie noch besser in die Entwicklung von gemeinsam Lösungen einzubeziehen und diese dann zu implementieren?

Eines unserer wichtigsten Ziele ist es, den öV-Anteil am Gesamtverkehr zu erhöhen. Leider hat sich dieser Anteil in den letzten Jahren trotz grosser Investitionen nicht wesentlich verändert. Es brauchts also sicher auch neue Ansätze und Innovationen. Neben dem Ausbau der Infrastrukturen müssen auch mit anderen Stellhebeln mehr Leute und Güter in den öV gebracht werden. Einerseits sollen die bestehenden Infrastrukturen effizienter genutzt werden. Hier liegen nicht zuletzt mit den neuen digitalen Möglichkeiten grosse Potenziale. Wissenschaft und Industrie können einen massgeblichen Beitrag dazu leisten. Andererseits kann die Industrie gerade bei den Fahrzeugen in verschiedenster Hinsicht zu einem effizienteren öV beitragen. Die Branche hat sich bekanntlich zu ehrgeizigen Energie- und Klimazielen verpflichtet, die ohne die Unterstützung und Innovationskraft der Industrie nicht erreicht werden können. Ein weiteres, wichtiges Stichwort ist hier sicherlich auch die automatisierte Mobilität, auf der Strasse und der Schiene, bei der sich in den nächsten Jahren viel bewegen wird. Und schliesslich muss sich die Branche selber weiterentwickeln und innovativer werden. Ich denke dabei beispielsweiser an flexiblere Angebote, wie dies z.B. mit den neuen Direktzügen von Genf nach Chur an den Wochenenden der Fall ist. Kurz: wir müssen im öV zwingend effizienter werden und vor allem auch die Bedürfnisse unserer Kundinnen und Kunden noch besser befriedigen. Dafür müssen alle Akteure im öV-System besser zusammenspielen. Wir müssen uns gegenseitig besser kennenlernen und zusammenarbeiten – was sowohl die LITRA wie auch die Swissrail mit Erfolg machen.


Wie kann die Bahnindustrie in Bezug auf umweltfreundliche Technologien, Energieeffizienz und CO2-Reduktion am besten unterstützt werden?

Die Politik kann der Industrie möglichst klare Vorgaben machen, die dann über längere Zeit Bestand haben. Im Rahmen des Pariser Klimaübereinkommens hat sich die Schweiz verpflichtet, ab dem Jahr 2050 unter dem Strich keine Treibhausgasemissionen mehr ausstossen. Dies scheint mir ein sehr klares und gleichzeitig ein sehr ambitioniertes Ziel zu sein. Das Volk hat bei der letzten Abstimmung am 18. Juni zum Klimagesetz diesen Weg gutgeheissen. Es ist eine Herausforderung diese Ziele zu erreichen. Persönlich bin ich nur bedingt ein Verfechter einer staatlichen Industriepolitik, obwohl auch wir uns bewusst sein müssen, dass andere Länder mit grossen Subventionsprogrammen genau eine solche betreibt. Darum sollten wir in der Schweiz gezielte Massnahmen definieren, um die Zielerreichung zu unterstützen. Die Schweizer Politik investiert zudem seit vielen Jahren sehr grosse Summen in die Bahn und in den Ausbau der Bahninfrastruktur. Und dies erfolgt in der Regel mit grossen politischen Mehrheiten und geschieht meistens parteiübergreifend, wozu die LITRA auch ihren Anteil leistet. So freut es uns auch, dass sich der Vorsteher des eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, Bundesrat Albert Rösti, kürzlich als Bahn-Fan bezeichnet hat!


«Wir müssen im öV zwingend effizienter werden...»


Freizeit und Tourismus sind dir grosse Anliegen. Welche Chancen und Herausforderungen siehst du im Bereich Freizeit und Tourismus für den öffentlichen Verkehr?

Der grösste Anteil unserer Mobilität fällt auf den Einkaufs-, Freizeit- und Tourismusverkehr. Insofern ist das Potenzial für den öV hier besonders gross und wir müssen unbedingt noch mehr Leute in den öV bringen und den Langsamverkehr fördern. In meinem Jahr als Nationalratspräsident habe ich beispielsweise das Projekt Rheinwelten erlebt, ein Schweizer Tourismusprojekt von der Ost- bis zur Nordgrenze, das mit dem eBike von der Rheinquelle in der Surselva bis nach Basel führt. Ebenfalls habe ich zusammen mit Railaway auf die Möglichkeiten der Nutzung des öV im beruflichen und privaten Umfeld hingewiesen. So habe ich mich im Verkehrshaus Luzern über die Railaway-Angebote austauschen können, und die LITRA hat zusammen mit Swissrail und einem solchen vorteilhaften Kombiangebot einen sehr produktiven Austausch auf dem Pilatus durchgeführt. Solche Angebote gilt es noch viel besser bekannt zu machen, damit sie viel häufiger genutzt werden.


Du warst während deinem Amtsjahr bereits auf vielen Auslandsreisen. Wie ist die Wahrnehmung der Schweizer Bahn- und Mobilitätsindustrie im Ausland? Welche Schweizer Verkehrslösungen stossen im Ausland auf Interesse? Wo können wir noch dazulernen?

Die Schweiz wird für ihr Bahnsystem gelobt und bewundert. In keinem Land ist das öV-System nur annährend vergleichbar, nicht einmal in Singapur. Dort liess ich mich auf meiner Nationalratspräsidenten-Reise über das öV-System informieren. Der öV-Anteil ist in Singapur sehr wohl viel höher als bei uns. Wieso? Singapur ist ein Stadtstaat und die Anzahl Autos ist staatlich begrenzt. Es ist sehr schwierig und teuer eine Bewilligung für ein Auto zu erhalten. Solche Massnahmen wirken natürlich massiv, sind in der Schweiz aber undenkbar. Auch ist die Schweiz von ihrer Topografie her nicht mit Singapur vergleichbar. Was das öV-Angebot und die Qualität anbelangt, können wir problemlos mithalten. Ich bin noch immer der dezidierten Meinung, dass wir das beste öV-System der Welt haben. Das ist ein Exportgut par excellence – wozu ja gerade die Swissrail-Mitglieder massgeblich beitragen! Wir dürfen uns aber nicht auf die Lorbeeren ausruhen, sondern müssen uns tagtäglich dafür einsetzen, dass dies so bleibt. Wir müssen kämpfen, damit wir weiterhin öV-Weltmeister bleiben!

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